Wer sich beim Timing beugt, der wird gefickt.
Alles wird immer schneller und schneller und schneller – das Lamento des neuen Jahrtausends. Wir sind selbst Treibende und Getriebene in unserem Wahn nach Geschwindigkeit. In besonders naiven Momenten, bin ich der Überzeugung: Das muss ja irgendwann aufhören. Und in meinen besonders mutigen Momenten stemme ich mich auch mal gegen das Postulat des Tempos.
Nur an diesem Tag hat mich das Weißbier mit einem Kollegen in der Mittagssonne des ersten warmen Frühlingstages schon gewaltig entschleunigt. Da kam der Anruf. Eine Agentur braucht Unterstützung bei einem Geschäftsbericht. Ich freu mich kurz. Das klingt nach einem lukrativen Auftrag. Ein Geschäftbericht, die höheren Weihen der Kommunikation. Ich erinnere mich an das letzte Projekt. Laufzeit: fünf bis sechs Wochen, enge Abstimmung mit Kunde und Agentur, gutes Geld. Ich frage nach, wie es mit dem Timing aussieht. „Das ist das kleine Problem. Ich bräuchte es am Montag in der Früh.“ Es ist gerade 15.35 … Donnerstag. Ich vergewissere mich, ob ich richtig gehört habe. Wir reden hier von einem Geschäftsbericht. Es sind alle Seiten noch komplett zu texten. Ich rechne kurz nach. Heute geht nix mehr. Also … nur 42 Stunden … Nick Nolte und Eddie Murphy hatten auch nicht mehr Zeit. Moment … mein Wochenende war ja schon verplant und keine Chance, das ohne Beziehungsdrama zu verschieben. Noch einmal laut nachdenken … "Ich könnte mich heute einlesen. Schreibe Freitag durch bis mir die Augen schwer werden und eventuell geht auch noch Sonntagabend bis in die Nacht. Das kann ich dir anbieten, aber vielleicht wäre es besser, noch jemand anderen anzurufen“, damit versuche ich, das Unheil abzuwenden. „Ich weiß niemanden außer dir, dem ich das geben möchte“. Ich bin kurz geschmeichelt. Doch dann fällt der Groschen auch bei mir. Moment. Wie kommt es zu so einem Wahnsinn? Ich gehe im Kopf blitzartig alle klassischen Szenarios durch. Kunde überschätzt maßlos die Leistung der Agentur. Nein, so blöd ist keiner. Agentur hat den Mund zu voll genommen. Kann gut sein. Agentur hat einen Schweinepreis angeboten und sucht jetzt einen Dummen, der mitgeht. Es wird wärmer. Da hat jemand den Projektplan aus dem Ruder laufen und sich vom Kunden vorführen lassen. Wärmer. Wenn der freie Texter nur drei Tage Zeit hat, und von uns nach Tagessatz bezahlt wird, kann er auch nur drei Tage abrechnen. Wir bekommen den Textentwurf für einen kompletten Geschäftsbericht zum Spotpreis. Treffer. Ich lehne ab. „Kannst du nicht doch was machen? Schau es dir doch mal an. Vielleicht ist es nicht so viel. Der komplette Input vom Kunden ist da“. Ich glaube fast schon, die Tränen der Verzweiflung zu hören. Weiches Herz, weiche Birne – ich lasse mich zu einem „Okay-ich-schau-es-mir-an“ hinreißen. Und was soll ich sagen … ein wüstes Sammelsurium von Texten, nicht für den Zweck aufbereitet. Mehrere schwammige Briefingansätze. Kein einziges Wort mit dem Kunden persönlich gesprochen. Als ich am Sonntag um 23.34 Uhr den letzten Text wegschicke, schau ich auf das Projektkürzel. GB – für Geschäftsbericht … oder Gangbang. Wildes, planloses Rumgefummel und gefickt von zu vielen Leuten, die man nicht wirklich kennt.
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